Freiheit ist nicht für alle da

Allensteiner Nachrichten - Czerwiec 2016

 
Allensteiner Nachrichten Nr. 1-3/2016 (146-148)
 
Januar ist neben Juli und November ein Monat, in dem sich die für die deutsche Geschichte bedeutenden Ereignisse häufen.

Am 18. Januar 1701 krönte sich Friedrich III. von Brandenburg in Königsberg selbst zum König Friedrich I. in Preußen, 170 Jahre später wurde das Deutsche Kaiserreich proklamiert, genau 48 Jahre danach begann die folgenschwere Konferenz in Versailles, die dem zweiten Weltkrieg vorausgegangen war. Schließlich wurde am 22. Januar 1945 Allenstein kampflos eingenommen, seine Einwohner misshandelt, ermordet, vertrieben, die Stadt selbst noch bis zum späten Frühling systematisch zerstört. Trotzdem gelang es aber der kommunistischen Propaganda, mit einer Unterstützung der europäischen Linken, die Welt davon zu überzeugen, dass die Sowjets Freiheitssoldaten waren. Bis heute hat man keinen von ihnen und insbesondere von ihren Vorgesetzten zur Rechenschaft gezogen. Abgesehen von den immer noch vorhandenen Dankbarkeitsdenkmälern und Straßennamen wie der 22.-Januar-Straße (Treudankstr.) in Allenstein oder der Rote-Armee-Straße in Landsberg kann man in den lokalen Medien immer wieder von der Befreiung Allensteins hören, was vermuten lässt, dass hier jemand mit ungeduldiger Hoffnung auf die Rotarmisten gewartet habe. Übrigens, es ist anzumerken, dass sogar die so genannten Polenkämpfer mit den späteren Geschehnissen sehr enttäuscht waren und sich bei der ersten Gelegenheit an ihre deutsche Staatsbürgerschaft erinnert haben. Glücklicherweise können wir jetzt die längste Friedensperiode in der europäischen Geschichte genießen. Der Krieg in der Ostukraine, der verhüllend als ein Konflikt bezeichnet wird, zeigt uns aber, dass zum einen die russische Propaganda weiter betrieben wird, zum anderen uns der Frieden nicht ein Mal für alle Zeiten gegeben wurde.
Dr. Alexander Bauknecht
 
 
Dymitr spricht mit Bedacht. Nicht, dass er jemanden zu irgendetwas überreden möchte. Er denkt zurück. Als er die Entscheidung getroffen hat, die Werte zu verteidigen, zu denen er sich bekennt, war er überzeugt, dass er die Heimatstadt nicht mehr sehen wird. – Als ich in den Krieg gezogen bin, war ich schon darauf gefasst, dass ich nicht mehr wiederkehre. Von Kindheit an habe ich mich für Samurai, ihre Lebensphilosophie begeistert. Für einen Samurai ist doch ein jeder Tag der letzte, jedes Abendbrot hält er für das letzte, er denkt nicht daran, ob er sich morgen noch überhaupt stärken kann. Das ist gar nicht wichtig. Dort im Osten hatten wir ähnliche Gedanken.
 
Der Novembermajdan 2013 hat die späteren Tragödien nicht angekündigt. Der Geschichtsstudent, künftige Lehrer, hat den Begriff „Revolution“ vor allem mit Frankreich im Jahre 1789 assoziiert. Die Leitung der Kiewer Hochschule hat es ihm verwehrt, sein Studium abzuschließen. Kurz vor dem Erwerb des Magistertitels hat der Rektor den hochmütigen Anarchisten im Einvernehmen mit der Sicherheitsbehörde „beseitigt“: Man hat ihn von der Studentenliste gestrichen. Er hat sich in die Hauptstadt Russlands begeben. – Als ich Anfang Dezember aus Moskau zum Majdan gekommen bin, habe ich – als Mensch mit einer gewissen politischen Erfahrung – diese „Tänze“ gesehen, ein mäßiges Flashback der Orangen Revolution, und dachte: es wird nichts daraus. Ich war überzeugt, dass ich dort nichts zu suchen hatte. Ich bin nach Moskau zurückgekehrt.
 
Damals war es selbstverständlich, dass junge Ukrainer ihr Bekenntnis zu Europa spontan zeigten, indem sie sich auf dem Hauptplatz der Stadt versammelten. Am letzten Novembertag haben aber die völlig korrumpierten Regierenden zu brutalen Mitteln gegriffen. Berkut hat die Demonstration zerstreut.
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Im Februar nächsten Jahres war Kiew schon ein richtiger Kampfplatz: Schnee, schwarzer Rauch brennender Reifen, Todesopfer… Dymitr hat von der Barrikadenhöhe die nächsten Sturmangriffe des Regimes von Janukowytsch beobachtet. In dieser Hekatombe hat er die Hingabe von unterschiedlichem Ausmaß behalten. – Ich habe eine sehr teuer gekleidete Frau gesehen: Stöckelschuhe, Pelz, und daneben ein Junge – wohl ihr Leibwächter. Plötzlich holt sie Holz zum ausgehenden Lagerfeuer. Der ganze Holzvorrat wurde verbraucht, sie hat also diesen Pelz hineingeworfen. Oder das Beispiel einer stabilen Ruhe im Stil eines englischen Ehrenmanns zwei Tage vor dem „schwarzen Donnerstag“. Ein surrealistischer Film aus dem Auge des Zyklons – Am 18. Februar sind wir kampfmüde zurückgekehrt, zum Majdan ist ein Geländewagen gekommen.  Der Fahrer hat die Hintertür aufgemacht, ein ernster Mann im Anzug ist ausgestiegen, er telefoniert mit dem Händy, der Fahrer nimmt irgendwelche Taschen und bringt sie zum nahegelegenen Geschäft. Der Fahrer kommt nach einer Weile mit den Taschen zurück und aus dem Salon kommt dieser Typ, komplett ausgerüstet, mit einem Baseballstock in der Hand. Er gibt dem Fahrer die Schlüssel zurück und gibt ihm den Auftrag: – Bis morgen! Bis sieben Uhr! Selbst geht er zum Majdan.
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Welche polnischen Akzente sind im Gedächtnis des Protestierenden geblieben? – Zwar hat es keine polnische Sotnie gegeben, aber da war eine gewisse Gruppe von Polen, die den Majdan verteidigt haben. Eine Weile habe ich mit ihnen gesprochen. Einer ist als Journalist gekommen und ist da geblieben, weil er gesehen hat, dass man dort um die Freiheit kämpfte. Ich schätze, es waren ca. 10 Personen und eine polnische Fahne flatterte sogar auf der Barrikade in der Hruschewskyjstraße. Da hat es vier Flaggen gegeben: zwei ukrainische: blau–gelb, rot-schwarz, eine weißrussische und gerade die polnische.
 
Dymitr teilt mir auch eine tiefere und etwas aktuellere Reflexion mit. – Bis jetzt hatte ich den Eindruck, dass Polen – ich weiß nicht aus welchem Grund – ein echter Kamerad der Ukraine ist. Ich wusste, dass uns polnische Freiwillige helfen. Nach der Zeit der Gefangenschaft, als ich mich auf die Reise nach Polen vorbereitet habe, habe ich begriffen, dass die Hilfe für die Ukraine eher mit dem Staatsinteresse motiviert ist. Die Gesellschaft? – Ich glaube, dass diejenigen, die den Kampf gegen Russland aufnehmen, für die Mehrheit der Polen Freunde sind. Kann das aber eine tiefere Freundschaft sein? Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob die Polen bereit sind, nicht nur aus politischen Gründen zu helfen. Bei uns ist die Denkweise geläufig, dass Polen ein Anwalt der Ukraine in der EU ist. Ich bin nicht so ganz der Meinung. Ich glaube, die Polen sind den Ukrainern gegenüber eher gönnerhaft eingestellt und ich kann es nicht ganz begreifen: warum? Natürlich gibt es historische Gründe für diese Sachlage, aber das Hauptproblem Europas beruht doch darauf, dass es die Gefahr im Osten gibt und die Ukraine eine Art Schutzschild ist. Ich glaube, die Polen verstehen es nicht. Zunächst haben sie den Majdan enthusiastisch begrüßt, weil es einfach ist, eine Revolution für edle Ideale mit dem lachenden Gesicht eines jungen Menschen zu assoziieren, der außerdem die Europafahne schwenkt. Schwieriger wird es aber, wenn man sie mit Menschen in Verbindung bringen muss, die bewaffnet und bereit zu kämpfen sind, also zu töten… Und wir waren Freiwillige. Nach dem Majdan mussten wir an die Front.
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Im Juni 2014 hat er sich zum Militär anwerben lassen. – Wir waren uns dessen bewusst, dass die Armee nicht bereit war, weder gegen die Separatisten noch die russische Aggression zu kämpfen. Eigentlich hat es nur eine Wahl gegeben – Freiwilligenbataillone. Ich habe mich für das „Donbas” entschieden. Die Armee symbolisierte für uns einen Staat, gegen den wir auf dem Majdan gekämpft haben. Sie verkörperte bestechliche Generäle, Korruption und andere Missstände. Die Freiwilligenbataillone – ganz im Gegenteil, sie ähnelten dem Saporoger Sitsch. Da haben sich freie Menschen versammelt, die für ihr Vaterland kämpften, nicht weil sie dazu gezwungen wurden, sondern weil sie sich selbst entschieden haben und die Zeit gekommen ist, in der nur freie Menschen irgendetwas ändern könnten.
 
Um die Waffe in die Hand zu nehmen, musste er es seiner Mutter vortäuschen. – Es hat kein solches Dilemma gegeben: hingehen oder nicht? So wie die meisten im Bataillon. Es hat dort auch viel ältere als ich gegeben, wir haben meistens unsere Familien irregeführt. Zahlreiche waren doch fest angestellt, in der Arbeit. Die anderen, bereits zum Militärdienst einberufen, haben schon auf Truppenübungsplätzen geübt, wie zum Beispiel mein Vertrauter aus Lemberg. Er hat sich selbst vor eine Musterungskommission gestellt und um die Einberufung an die Front gebeten. Seiner Frau hat er angekündigt: Ich muss fort, man hat mich gerade einberufen. Ich habe der Mama erläutert, dass ich im Stab arbeiten und nicht an die Frontlinie geschickt würde. Am schwierigsten war es, meine Verlobte zu verlassen, denn sie hatte Gesundheitsprobleme. Ich habe ihr geholfen. Letztendlich hat es sich erwiesen, dass der Krieg die Beziehung zerrissen hat. Nach der Rückkehr von der Front, aus der Gefangenschaft, war er schon ein ganz anderer Mensch. Bis heute kann er nicht den Anblick von brennenden Kameraden verdrängen, die aus einem Transportpanzer laufen. Die Vertrauten, wie er sie nennt, die er im Bataillon kennen gelernt hat, haben ihre Arme ausstreckend um Hilfe gefleht. Es war aber unmöglich, sie zu leisten. In seine Ohren hat sich das zischend-knackende Feuergeräusch fest eingeprägt.
 
 – Zunächst gelangte ich in ein Schulungslager. Die Vorbereitung hat ungefähr einen Monat gedauert. Anfang Juli war ich schon bei den Antiterrorkräften. Ich habe sowohl in der Oblast Donezk als auch Luhansk gekämpft. Ich habe mich an der Befreiung der Städte Popasna und Lyssytschansk beteiligt. Mein so genannter Kampfweg war in Ilowajsk zu Ende. Als wir den  Umzingelungsring verlassen haben, der von den russischen Truppen geschlossen wurde, wurde ich verletzt und geriet in die Gefangenschaft. Vier Monate lang war ich Kriegsgefangener bei den Separatisten. Aus der Gefangenschaft wurde ich Ende 2014 freigelassen. Abwesend blickend fügt er leise hinzu:  – Eigentlich glaube ich, dass die Leute weder in Polen noch in der Ukraine es wissen, wie ein Krieg eigentlich aussieht. Das ist kein Farbbeutelschießen. Der Krieg bedeutet Blut, Tod, Schmutz. Tierische Triebe kommen ans Tageslicht. Man lässt seine Wut an den Kriegsgefangenen aus, nicht um wichtige Informationen durch Foltern herauszubekommen, sondern um sadistisch zu töten… Er verstummt.
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Plötzlich wird die Dramaturgie seines Berichts noch stärker. Die Geschehnisse überschlagen sich. – Mein Bataillon und manche Unterabteilungen anderer Bataillone haben sich in Ilowajsk zwei Wochen lang verteidigt und auf Hilfe seitens unserer Armee gewartet. Die Hilfe hat es kaum gegeben. Wir hatten keine Artillerieunterstützung. Innerhalb von zwei Wochen hat man nur ein Mal einige Salven abgegeben und die Artillerie weggezogen. Auf uns ist fünf bis sechs Mal rund um die Uhr alles Mögliche niedergeprasselt. Der Beschuss der russischen Artillerie und der Separatisten hat nicht aufgehört. Es gab keinen ruhigen Tag, keine Zeit für eine Rast. Nach zwei Wochen hat man uns befohlen, sich zurückzuziehen. Für so ein Manöver war es aber schon viel zu spät. Wir haben uns hinter dem zwei- oder dreifachen Ring der russischen Truppen befunden. Beim Ausbruch geriet unsere Kolonne in einen Hinterhalt. In der Kolonne gab es von vier bis fünf hundert Soldaten, die Mehrheit davon ist gefallen. Am Leben sind ungefähr 150-200 geblieben. Der Rest der Bataillone hat Verteidigungsstellungen an einer ganz unbequemen Stelle eingenommen, aber es hat keine andere gegeben – nur ein ziemlich kleines Chutor (Vorwerk), das aus fünf Häusern bestand. Dicht umzingelt haben wir uns dort 36 Stunden, ohne Schwer- und Panzerabwehrwaffen, verteidigt. Trotzdem ist es uns gelungen, zwei russische Panzer zu zerstören und einen zu erobern. Wir haben auch eine Menge russischer Waffen gewonnen und ungefähr 30 Russen in die Gefangenschaft genommen. Danach haben wir uns in Verbindung mit dem Russischen Kommando gesetzt und gerade die Gefangenen als Trumpf in den Verhandlungen genutzt. Wir haben ihnen angeboten, die eroberten Waffen zurückzugeben, die Gefangenen im Tauscht zu übergeben, um nur von dort weggehen zu können. Die Russen haben geantwortet, dass das Leben ihrer Soldaten nichts wert ist. Übrigens waren diese Soldaten auch überzeugt, dass niemand in ihrer Armee sie bedauern wird und sie unter dem russischen Beschuss zusammen mit uns ums Leben kommen werden. Die Verhandlungen dauerten lange. Schließlich hat man eine Vereinbarung getroffen. Der russische Befehlshaber hat eine Bürgschaft geleistet: Er hat „das Wort des russischen Offiziers“ – wie er sich äußerte – gegeben, dass unsere Verletzten – ca. 60 Personen, schwer verwundet und überwiegend sterbend – dem Roten Kreuz übergeben und wir nicht den DNRlern [den Kämpfern der separatistischen Volksrepublik Donezk] ausgeliefert werden. – Wir waren uns dessen bewusst, dass sich die russische Abwehr zunächst mit uns beschäftigt. Sehr viele von uns wollten sich gar nicht ergeben. Wir haben auf den Tod mit der Waffe in der Hand gehofft. Zumal es uns klar vorkam, wem wir uns zu ergeben sollen. – Den Russen! Das war eine sehr schwierige moralische Entscheidung. Ich persönlich kam auf die Idee, die Stellung in einem der Gebäude zu besetzen, um dort auf die russischen Soldaten zu warten. Ich wollte bis zum letzten Blutstropfen kämpfen. Na, so sollte mein Tod aussehen. Aber mein Befehlshaber versuchte uns zu überreden: „Ja, du stirbst den Heldentod – und einen Kollegen mit dem Finger zeigend – er stirbt den Heldentod, und habt ihr an andere gedacht, diese, die in die Gefangenschaft gehen? Was machen sie mit ihnen für den Tod der von euch umgebrachten Russen?“ Dieser Moment hat entschieden, dass ich mein Vorhaben nicht durchgeführt habe. Wir haben uns den Linien der russischen Truppen genähert und die Waffen abgegeben.
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Er erzählt weiter von den Russen: – Für zahlreiche Soldaten war das eine enorme Überraschung, als sie von uns erfahren haben, dass sie sich nicht in der Oblast Rostow befinden, wovon sie felsenfest überzeugt waren und dass sie nicht gegen den Rechten Sektor kämpfen, der in das russische Staatsgebiet eingedrungen ist. Sie haben verstanden, dass sie in der Oblast Donezk auf dem ukrainischen Territorium, 30 km weit von Donezk sind. Sie haben erfahren, dass sie als Angreifer gegen das Freiwilligenbataillon und die ukrainische Armee kämpfen. Tatsächlich habe ich gesehen, wie ein achtzehnjähriger Junge in Tränen ausgebrochen ist. Er hat nämlich begriffen, dass das System, für das er kämpfte, ihn betrogen hat. Es hat ihn vom Verteidiger zum Besatzer gemacht.
 
Dymitr hat verschiedene Landsleute Putins kennen gelernt. Er selbst kann ihre Sprache fließend sprechen. Er hatte unter ihnen viele Freunde. – Als der Majdan angefangen hat, war es schmerzhaft zu beobachten, dass sie Eines nicht verstanden haben: Es ist Kampf um die Freiheit. Sie sind dagegen laut eingetreten. Das waren die meisten. Eine eindeutig kleinere Gruppe ist der Freundschaft und nicht der Propaganda treu geblieben. Nach Janukowytschs Flucht hat er einen Teil von ihnen nach Kiew gebracht. Auf den Straßen hat er Patronenhülsen gesammelt und ihnen vor Augen gehalten.  – Während in der Hruschewskyjstraße schon Ruhe herrschte, habe ich die treuesten Bekannten aus Russland eingeladen, damit sie Barrikaden, Spuren der Selbstorganisation, die Abwesenheit politischer Führer mit eigenen Augen sehen. Sie sind gekommen. Es wurde klar, dass sie zurückkehren und weitererzählen werden. Mit ihnen bin ich immer noch im Kontakt. Ein anderer Kumpel von mir – ein Russe, mit dem wir den Majdan zusammen durchgemacht haben – kämpft sogar bis jetzt im Bataillon Asow. Es gibt ziemlich viele Russen. Sie sind echte russische Patrioten, die an die Zukunft Russlands glauben.
 
Das Schicksal hat ihm auch keine Konfrontation Angesicht zu Angesicht erspart. – Unter meinen ehemaligen Freunden hat es auch einen gegeben, mit dem wir uns bis zum Krieg gegenseitig sehr geholfen haben. Als der Krieg Tatsache geworden ist, ist er weggefahren, um für die DNR zu kämpfen. Er ist in Donezk angekommen und über andere Kollegen hat er sich  meine Telefonnummer besorgt. Er hat vielleicht zwei Mal angerufen und dann… habe ich ihn an der Front getroffen. Er geriet in unsere Gefangenschaft.
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Dymitr kehrt zum Moment seiner Gefangennahme zurück.  – Nachdem wir uns ergeben haben, hat man uns über die Nacht gehalten. Die Verletzten hat man tatsächlich dem Roten Kreuz übergeben, die Jungs von den anderen Bataillonen hat man auch irgendwohin geschickt, und wir vom Bataillon Donbas wurden sowieso den DNRlern übergeben. Soviel hat das Wort des russischen Offiziers bedeutet. Das ist vielleicht noch ein Beweis dafür, dass das Wort eines Menschen aus Russland nichts zählt. Es mag  auch nicht gut klingen, aber vielleicht ist es besser zu sagen: Den Worten der Feinde Russlands darf man auf keinen Fall trauen. Niemals.
 
Die Gefangenschaft – wir haben nicht gedacht, was sie für uns bedeuten kann. Wir haben eher gedacht, dass wir nach einer gewissen Zeit heimkehren. Nachdem man uns schon nach Donezk gefahren hatte, begriffen wir, dass sie uns eher töten als freilassen werden. Wir waren für sie „Faschisten – Nationalisten”, fast der Rechte Sektor. Der Rechte Sektor ist für sie alles Schlimmste und wir – „fast der Rechte Sektor”. Natürlich war es gefährlich. Am schlimmsten war für uns die Vorstellung, dass wir nicht ehrenhaft, mit der Waffe in der Hand, gefallen sein werden. Wir haben geahnt, dass sie uns sicherlich quälen und wir bei Foltern ums Leben kommen werden.
 
Vier Monate habe ich in einem Keller verbracht. In den ersten zwei Monaten haben wir gehungert, man hat uns geschlagen, beleidigt, niedergemetzelt, der fehlende Kontakt mit den Verwandten hat uns sehr zugesetzt. Man hat sich viel Mühe gegeben, uns zu brechen. Das ist ihnen doch nicht gelungen. Ich glaube, sie haben es verstanden, wer ein Freiwilliger, wer also  ein Mensch ist, der mit dem Glauben für sein Land, für seine Familie kämpft.
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In der Gefangenschaft hat Dymitr eine zusätzliche Bestätigung der imperialen Mentalität und Bestrebungen gefunden, die Treibstoff für den feindlichen Angriff in der Ukraine ist.  – Der Befehlshaber der separatistischen Abwehr wollte mir in der Gefangenschaft einreden, dass Russen Pläne haben, die ganze Ukraine zu erobern, um danach weiter zu gehen. Polen und das Baltikum, hat er aufgezeigt, hätten einst zu Russland gehört.
 
Mein Gesprächspartner hat die Gefangenschaft dank dem so genannten Präsidentenaustausch der Gefangenen überstanden. – Wir haben nicht gewusst, ob die Landsleute uns willkommen heißen werden. Wir haben uns doch ergeben. Nach der Übergabe an die  ukrainische Seite haben wir gefragt: Wer sind wir nun für euch? Man hat geantwortet: Ihr seid Helden. Wir bezeichnen uns aber nicht so. Wir spüren nicht, dass sich in unserem Leben Heldentum gezeigt hat. Wir konnten doch nichts machen, wir mussten uns verteidigen. Wir wussten, wenn nicht wir, dann wer? Wer lernt zu kämpfen und wer wird dann kämpfen? Eine feindselige Alternative war der Anblick russischer Truppen in meinem geliebten Kiew.
 
Dymitr Scheretun hat sich entschlossen, zum Abschluss unseres Treffens, mit einer Reflexion von mir Abschied zu nehmen, die für ihn keinen Spekulationen unterliegt: – Daher glaube ich, das, was es einst gab, ist nicht nur ein historisches Modell, sondern es betrifft uns persönlich. Man darf die Freiheit nicht vergessen. Das ist die wichtigste Frage im Leben eines jeden Menschen. Die Situation, die ich erlebt habe, übrigens eine Situation, die wir seit zwei Jahren in der Ukraine haben, lehrt uns, dass die Freiheit allein erstrebenswert ist.
 
Jerzy Necio
Geschichtslehrer, Ukrainer mit lemkischen Wurzeln, geb. 1962 im ermländischen Braunsberg. Er veröffentlichte seine Werke u. a. bei der Kulturgemeinschaft Borussia, deren Mitglied er ist. Er interessiert sich für Regionalgeschichte und Geschichtsdidaktik.
 
Debata 11(98)2015 SS. 22-23
Übersetzt von Dr. Alexander Bauknecht